Zum Inhalt springen

Ein Ball, ein Volk

06/23/2014

Irgendwo in Frankreich, Juni 2014…

Regional…

Der Bus, mit dem ich zu meiner Familie will, fährt mit 10 Minuten Verspätung von der Endhaltestelle ab, die in dem Fall die Anfanghaltestelle ist, nur dass das keiner sagt. Wir fahren deshalb mit 10 Minuten Verspätung ab, weil der Fahrer meint, auf die nächste Tram warten zu müssen, falls ein Fahrgast mit in den Bus möchte. Dass man es in dem Fall so halten kann, wie ich, sprich einfach eine Bahn früher fahren, das behalte ich einfach mal für mich. Es ist Sonntag, die Sonne scheint, auf mich warten ein schönes Essen und ein kühler Pool. Die Tram kommt an, keiner will mit den in Bus, wir fahren los. Zehn Minuten später halten wir wieder an, weil eine junge Frau sich aus welchen Gründen auch immer (sowas ist ja doch immer sehr persönlich) in dem Bus übergibt. „Fahren Sie ruhig weiter“, sagt ihre Freundin, als beide eiligst aussteigen, damit die gastrisch Labile ihren Mageninhalt am Fuss einer Platane in Ruhe auskotzen kann. „Aber nicht doch, ich bitte Sie!“ antwortet unser Fahrer freundlich „wir warten“. Ich komme mit 20 Minuten Verspätung ans Ziel bei einer Fahrt, die insgesamt nur 30 dauert, offiziell. Was solls’s, mir ist ohnehin der Apetit vergangen. Frankreichs Freundlichkeit führt uns noch endgültig ins Chaos…

National…
Abi ist in Frankreich jedes Jahr so ein Riesenereignis, ich weiss nicht, ob es noch ein anderes Land gibt, wo man in den Nachrichten tagtäglich davon hört, wie Tausende von Kids über die Klausuren schwitzen. Jedes Jahr erfahren wir, voller Ehrfurcht, wie alt der jüngste und wie jung der älteste Kandidat ist, und wenn die Ergebnisse endlich feststehen, zeigt uns das Fernsehen Bilder junger hysterischer Menschen, allesamt in Tränen aufgelöst, sei es, weil sie ihr Abi nicht haben, sei es, weil sie ihn haben. Frankreich ist nicht umsonst ein Land, das nah am Wasser gebaut ist. Irgendwas muss den Kids dieses Jahr aber zu Kopf gestiegen sein, denn man las diese Woche in der Presse, sie hätten eine Petition an die Regierung (oder an den Präsidenten, ich müsste jetzt nachschauen) jedenfalls an höchster Stelle geschickt, weil die Aufgaben der Mathe Klausur zu schwer gewesen seien. Hab’s gerade geprüft: 40.000 Abiturienten haben dem Erziehungsminister eine Petition geschickt. Da zieht meine gesamte schulische Laufbahn plötzlich vor meinem inneren Auge und ich frage mich, warum ICH NIE auf die Idee gekommen bin, Petitionen zu schreiben, wenn mir Klassenarbeiten zu schwer vorkamen! Ehrlich: mein Abidurchschnitt hätte sich da gewiss um einiges verbessert. „Nö, Deutsch LK hin oder her, dieses Thema ist mir zu schwer, mach’ ich nicht!“ Andere beschweren sich auf Twitter lautstark und denkbar unelegant über die Französisch Aufgabe, ein Gedicht von Victor Hugo. „Fuck Hugo“ schreiben sie da. Victor, pardonnez-leur, ils ne savent même pas écrire votre nom !

International…
Es gibt ja einige Parameter, um Auskunft über die psychologische Lage eines Landes zu erhalten. Statistische Daten, wirtschaftliche Fakten, politische Wahlen…. Hier in Frankreich gibt es noch etwas anderes: Fussball-WM. Wobei wir da nicht die Einzigen sind, vermute ich. Aber seit 1998 und dem Sieg unserer „BlackBlancBeur“ Mannschaft gleicht die Beziehung „Fussball – Land“ fast schon einer metaphysischen Gleichung. So, wie andere im Kaffeesatz lesen oder Tauben rupfen, um die Zukunft zu sehen, so schauen wir in Frankreich Fussball. Irgendwie habe ich plötzlich „Astérix et le Devin“vor Augen, „Asterix und das Medium“ (wenn es der deutsche Titel ist). Wie auch immer, in den jeweiligen Fussball WM scheint sich für uns Franzosen mehr abzuspielen, als „nur“ Fussball. Und es ist nicht, dass das jeweilige Team und dessen Leistungen Auskunft gibt über den Zustand der Nation, nein! Die Leistungen des Teams können dauerhaften Einfluss auf den Zustand der Nation haben. Beziehungsweise, die Wechselwirkung ist subtiler. Ein Volk eine Mannschaft, eine Mannschaft, ein Volk… Bei DER WM 1998 standen wir plötzlich alle wie beseelt hinter unser Sieger, so schön bunt, so schön intelligent, so schön, überhaupt… 2002 kann sich keiner erinnern, was war. Da standen wir wohl noch unter dem Schock, den die Anwesenheit von Jean-Marie Le Pen in der zweiten Präsidentschaftswahlrunde und Jospins Rücktritt ausgelöst hatten (hab’ gesucht: wir sind gleich in der Vorrunde rausgeflogen). 2006: wir sind zweite nach einem Finale gegen Italien, doch in Erinnerung bleibt vor allem Zidanes Kopfnuss. 2010: Skandale, Grossmäule, verwöhntes Kickervolk, laut (wegen?) damaliger Sportministerin Bachelot Tränen in den Umziehkabinen, Getue überall, und dann nicht mal ins Achtelfinal. Wer war zu der Zeit Präsident in Frankreich? Genau! Und dieses Jahr… Gut, es fängt erst an, aber anscheinend ist diese Mannschaft in der Lage, das französische Volk mit dem Fussball zu versöhnen. Die Jungs sind höflich, bescheiden, sie beteuern regelmässig ihre Liebe zum Land, und sie können spielen. Bleibt abzuwarten, ob es ihnen gelingt, des Präsidenten Beliebtheit zu steigern. Derzeit mag ihn nämlich niemand so rechtens leiden, hier. Aber so ging’s der Nationalelf auch, vor vier Jahren…

 

 

No comments yet

Hinterlasse einen Kommentar